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Habecks Lehman-Moment…

Die Gas-Krise eskaliert, Deutschlands Industrie droht ein schwerer Schlag, Zehntausende Jobs sind bedroht. Für sein pragmatisches Krisenmanagement bekommt der grüne Wirtschaftsminister zu Recht viel Lob. Nur in einer Frage verfällt er in alte Parteireflexe…

Die Lage, in der sich Deutschland seit dieser Woche befindet, klingt nach einem Katastrophenstreifen aus den frühen Schaffensjahren eines Roland Emmerich oder Wolfgang Petersen: „Alarmstufe Gas“. Man denkt an einen ziemlich dürftigen Plot, vielleicht auch an einen Hauptdarsteller wie Steven Seagal, der sich ruppig durch die Kulissen prügelt, um die Welt zu retten.

Doch die „Alarmstufe Gas“, die Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck am gestrigen Donnerstag ganz offiziell ausgerufen hat, ist bittere Realität. Und wer Habeck diese Woche zuhörte – etwa bei seinem wirklich bemerkenswerten Auftritt vor der deutschen Industrie – spürte, welcher Druck auf ihm lastet – und wohl auch, ohne dass wir es schon merken würden, auf dem ganzen Land. Noch dazu in einer Zeit, in der sich der Sommer draußen heiß läuft.

Die Lage ist tatsächlich dramatisch. Langsam aber sicher dreht Russlands Kriegspräsident Wladimir Putin Europa den Gashahn zu. Seit Tagen schon kommen nur noch etwa 40 Prozent der eigentlich vereinbarten Liefermenge aus den drei großen Pipelines in Deutschland an, und bald womöglich gar nichts mehr. Putins Ziel ist klar: Er will Deutschland wirtschaftlich an die Wand pressen, als Warnung und Vergeltung für die Sanktionen und die militärische Unterstützung der Ukraine.

Der Countdown läuft

Große Teile der hiesigen Industrie stehen damit vor einer existenziellen Bedrohung. Denn das Problem ist nicht Gas zum Heizen, sondern als Grundlage für die Produktion zahlloser Industrieunternehmen. Sei es als Brennstoff für Hoch- und Brennöfen in der Stahl-, Glas- und Keramikindustrie, oder als Grundstoff für viele chemische Produkte. Noch laufen die Werke, noch reicht das freie Angebot auf dem Markt, um die Lieferausfälle aus Russland kurzfristig auszugleichen (wenn auch zu immensen Kosten). Aber der Countdown läuft, am 11. Juli ist erst einmal ganz Schluss.

Dann werden Putins Ingenieure die Nord Stream 1-Pipeline auf dem Grund der Ostsee zwei Wochen lang überprüfen, ganz so, wie es im Benutzerhandbuch für Gaspipelines vorgeschrieben ist. Und danach wird man sehen, wie es weitergeht. In der Bundesregierung rechnet man jedenfalls nicht damit, dass Putin anschließend die Leitung wieder aufdreht. Wahrscheinlicher ist, dass auch danach kein Gas mehr aus Russland kommen wird.

Wie sich das zweite Halbjahr 2022 energiemäßig entwickeln dürfte, haben Habecks Beamte in den letzten Tagen eifrig berechnet – und es sieht nicht gut aus. Selbst im besten Fall, dass Putin nach der Wartung wenigstens wieder 40 Prozent der zugesagten Gasmengen durch die Röhren schickt, reichen die Lieferungen und Reserven nur, wenn Deutschland kein Gas mehr an Nachbarländer wie Frankreich und die Niederlande abgibt – von denen wir aber zugleich erwarten, dass sie an uns brav zugesagte Gasmengen durchleiten.

Es ist ein Kalkül, das niemals aufgehen wird. In allen anderen möglichen Szenarien wird das Gas jedoch beim heutigen Bedarf nie und nimmer reichen, um über den Winter zu kommen. Zehntausende, vielleicht sogar hunderttausende Arbeitsplätze sind akut bedroht.

Wen soll die Regierung retten?

Die erste Folge wird sein: Die Preise für Gas werden weiter steigen. In den letzten zehn Tagen ist der Preis für eine Megawattstunde am Spotmarkt um mehr als 50 Prozent gestiegen. Und das wird nicht das Ende sein, Experten rechnen damit, dass sich die Preise noch einmal verdoppeln könnten. Man will sich nicht vorstellen, was bei einem vollständigen Lieferstopp an den Märkten los sein wird. Die Regierung steht vor einem großen Dilemma: Wen soll sie retten? Die Gasversorger, die nun die fehlenden Gasmengen teuer am Spotmarkt einkaufen müssen, aber die horrenden Preise bisher nicht sofort an die Endkunden weitergeben dürfen? Oder die Kunden, private wie industrielle, die die neuen Preise, wenn die Versorger diese doch weitergeben (wozu die Regierung eigens eine Gesetzesklausel aktivieren müsste), nicht mehr werden bezahlen können? Wenn es denn überhaupt noch Gas für alle gibt, was längst nicht sicher ist.

Es war Habeck selbst, der ein prägnantes Bild für die Lage wählte: „Es droht der gesamte Markt umzufallen, also ein Lehman-Brothers-Effekt im Energiesystem“, sagte er. „Die Versorger beliefern irgendwann nicht mehr die Stadtwerke, die Stadtwerke nicht mehr die nachgelagerten Kunden, und dann kann man sich vorstellen, was in Deutschland passiert.“ Und die bittere Nachricht ist: Mit etwas gutem Willen, kalt Duschen und zwei oder drei Grad weniger Zimmertemperatur im Winter wird sich dieses Schreckensszenario nicht abwenden lassen – auch wenn es natürlich immer richtig ist, Energie zu sparen.

Es ist daher vollkommen richtig, alle Alternativen dafür zu prüfen, wo in Deutschland in den kommenden Monaten noch Energie herkommen und produziert werden kann. Gas zu Strom, noch dazu als Ersatz für die schmutzige Kohle wie noch vor wenigen Monaten im großen Energiewendeplan vorgesehen (allein 40 neue Gaskraftwerke sollten da gebaut werden!), verbietet sich jetzt von selbst. Aber was dann? In ihrer Not verständigte sich die Ampelkoalition diese Woche darauf, alte und ausgemusterte Kohlemeiler zu reaktivieren. Was natürlich ein Irrsinn ist für eine Regierung, die eigentlich einmal angetreten war, um das Land wegzubringen vom schmutzigen Kohlestrom. Der Kohleausstieg bis 2035 oder lieber noch früher ist schon jetzt Vergangenheit.

Umso erstaunlicher, irgendwo zwischen Tragik und Verbohrtheit schwankend, mutet da die Weigerung von Habeck und den Grünen an, die letzten drei Atommeiler in Deutschland länger als geplant am Netz zu belassen. Bis Ende des Jahres sollen sie noch sechs Prozent des deutschen Strombedarfs produzieren. Sechs Prozent seien aber ziemlich wenig, sagen Habeck und seine Leute (die ansonsten gerade um jede Kilowattstunde kämpfen). Um über den Winter zu kommen, müssten die Meiler in den „Streckbetrieb“, dürften also bis Jahresende weniger Strom liefern, um dann noch bis März oder April laufen zu können. Dafür habe man dann aber jetzt, in der akuten Not, weniger Atomstrom. Wer die Meiler noch länger laufen lassen wolle, brauche zudem neue Brennelemente und das dauere mindestens zwölf Monate. Hinzu kämen die Wartung und die nötigen Investitionen. Eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke bedeute ein maximales Risiko bei einer Hochrisikotechnologie mit minimalem Ertrag, so Habeck.

Maximaler Ertrag bei minimaler Verschmutzung

Man kann aber auch sagen: Die Meiler sind geprüft und zertifiziert, sie entsprechen den neuesten Sicherheitsstandards, und selbst wenn sie gewartet werden müssen, kann man das gut erledigen, solange man auf die neuen Brennelemente wartet. Dann aber liefern die drei Meiler immerhin noch sechs Prozent des deutschen Strombedarfs – in einer Situation, in der eigentlich alles fehlt und die Alternative nur Kohle heißt. Die sechs Prozent sind nicht nichts, sondern ein maximaler Ertrag bei minimaler Verschmutzung und bei einem Risiko, das wir schon jetzt tragen.

Die halbe Welt fasst sich inzwischen an den Kopf vor Verwunderung darüber, dass die Bundesregierung beim Aus für die drei AKWs bleiben will. Der Chef der Internationalen Energieagentur, Fatih Birol, appellierte diese Woche an die westlichen Industriestaaten, alte Meiler unbedingt am Netz zu halten. Der Adressat war klar, denn außer Deutschland plant eh kein anderes Land im Moment den Komplettausstieg. Doch statt die drei Meiler ebenso pragmatisch zu behandeln wie im Moment den Rest des Energiesektors, verschanzen sich Habeck und die Grünen hier so wie vor zwei oder drei Jahren noch die maßgeblichen Wirtschafts- und Energiepolitiker von SPD und Union im Streit um russisches Gas und den Bau der Pipeline Nord Stream 2. Ja, die drei Meiler werden Deutschlands Energieproblem nicht lösen, aber es wäre fahrlässig, sie jetzt einfach aufzugeben.

Das gilt umso mehr, weil Habecks große Energiewende bisher kaum frischen Wind unter die Rotorblätter bekommen hat. Der Minister redet zwar viel über den Ausbau der Wind- und Solarenergie – doch spürbar vorankommen wird dieser bestenfalls in zwei oder drei Jahren. Bis dahin sind auch sechs Prozent Strom schon richtig viel.

Der Beitrag ist ursprünglich bei www.capital.de erschienen…